»Shakespeare: Theater des Neides« von René Girard ist eine epochale 
Studie über William Shakespeare: Alle menschliche Kultur entwickle sich 
aus dem Bedürfnis der Nachahmung, besagt René Girards mimetische 
Theorie.
 Der Autor entwickelt eine Sicht auf Shakespeares Werke, in der das 
Handeln der jeweiligen Akteure aus deren mimetischer Beziehung 
zueinander gedeutet wird, wie sich die Personen also jeweils ineinander 
spiegeln, und sich dadurch 'manipulieren' oder abzugrenzen suchen. 
Girard zeigt dabei ein sehr feines Gespür für die psychologischen 
Triebfedern im Handeln des Menschen und ihre Entsprechungen in den 
Figuren Shakespeares.
 Philosophie, Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft haben 
die Theorie aufgegriffen, und Girard selbst wendet sie nun auf ein 
zentrales Werk der Weltliteratur an. Er zeigt, wie Shakespeares Helden 
dem elementaren Bedürfnis der Nachahmung folgen und damit bis heute 
faszinieren. Sein Buch beleuchtet daher nicht nur Shakespeare und sein 
Theater, sondern auch die Literatur und ihre Rolle in unserem Leben.
 
Für Shakespeare ist die ungebrochene Kontinuität zwischen Einigkeit 
und Uneinigkeit genauso entscheidend wie für die tragischen Dichter 
Griechenlands, und auch für ihn war sie eine reiche Quelle poetischer 
Paradoxe. Diese wichtige Quelle menschlicher Konflikte - die mimetische 
Rivalität - müssen Dramatiker wie Romanciers entdecken, wenn ihr Werk 
die Flüchtigkeit des Modischen überdauern soll, und sie müssen sie ganz 
auf sich gestellt entdecken, ohne die Hilfe von Philosophen, 
Moraltheoretikern, Historikern oder Psychologen, die sich zu dem 
Gegenstand beharrlich ausschweigen.
 
Shakespeare entdeckte diese Wahrheit so früh, daß sich seine erste 
Annäherung ausgesprochen unreif, ja fast wie eine Karikatur ausnimmt. In
 seinem noch sehr jugendlichen Gedicht »Die Schändung der Lukretia« 
beschließt der potentielle Vergewaltiger Tarquinius, eine Frau zu 
vergewaltigen, der er - anders als sein Vorbild bei dem römischen 
Historiker Livius - nie wirklich begegnet ist; er fühlt sich allein 
deswegen zu ihr hingezogen, weil der Ehemann ihre Schönheit über alle 
Maßen rühmt. 
 
Vermutlich schrieb Shakespeare die Szene, unmittelbar nachdem er das
 mimetische Begehren entdeckt hatte. Er war so gepackt davon, so 
begierig, das dadurch konstituierte Paradox herauszustellen, daß er eine
 zwar nicht völlig unglaubwürdige, aber doch ziemlich beunruhigende 
Ungeheuerlichkeit schuf, eine völlig "blinde Vergewaltigung", in dem 
Sinn, wie wir von einer "blinden Verabredung" sprechen.
 
Moderne Kritiker haben eine heftige Abneigung gegen das Gedicht. Was
 Shakespeare betrifft, so erkannte er sehr schnell (was ich selbst wohl 
nie gelernt habe), daß es kein sicherer Weg zum Erfolg ist, wenn man vor
 der Öffentlichkeit mit der roten Flagge des mimetischen Begehrens 
winkt. Sehr rasch wurde Shakespeares Umgang mit dem Begehren raffiniert,
 listig und komplex, doch er blieb konsequent, ja obsessiv mimetisch.
 Shakespeare kann im Hinblick auf das mimetische Begehren so explizit
 sein wie unsereiner und verfügt über ein eigenes, dem unseren 
hinreichend nah verwandtes Vokabular, so daß man sofort weiß, was 
gemeint ist. Er spricht von "suggeriertem Begehren", "Suggestion", 
"eifersüchtigem Begehren", "nacheiferndem Begehren" usw. Aber das 
wesentliche Wort ist "Neid", für sich genommen oder in Verbindungen wie 
"neidisches Begehren" oder "neidisches Nacheifern".
 
Wie das mimetische Begehren ordnet der Neid das begehrte Et was 
einem Jemand unter, der sich einer privilegierten Beziehung dazu 
erfreut. Der Neid trachtet nach dem höheren Sein, das weder der Jemand 
noch das Etwas allein, sondern nur die Verbindung beider zu besitzen 
scheint. 
 Unfreiwillig bezeugt der Neid einen Mangel an Sein, der den 
Neidischen beschämt, besonders seitdem der Stolz in der Renaissance 
metaphysisch überhöht wurde. Darum ist Neid die schwerste Sünde, zu der 
man sich bekennen kann.
 
Rene Girards "Shakespeare: Theater des Neides" erweitert weniger den
 Interpretationshorizont Shakespearscher Werke, als es viel mehr Girards
 Mimesis-Theorie erhellt. Girards Mimesis-Sicht stellt durch 
"mimetisches Begehren" eine Beziehung zwischen Nachahmung und - 
vollzogener oder unterlassener - Gewalt her. Shakespeares Werke dienen 
Girard als Vehikel seine Theorie der "Mimetischen Nachahmung" (also 
eigentlich ein Pleonasmus) in Shakespeares Dramen zu transportieren. Das
 liest sich als Neuling in Agenda "Girards Mimesis" anfangs sehr 
interessant. Aber mit der Zeit, nach immer wieder durchgekauten Stücken 
Shakespeares, die immer wieder auf den gemeinsamen Nenner der Mimesis 
von Girards Theorie, also eigentlich nicht (!!!) der Mimesis von 
Shakespeares Werken, reduziert werden, dachte ich mir: "Ja, wiß' ma eh 
scho'…". Der flotte, mitunter lockere Stil kann eine sich einstellende 
Langeweile mit fortschreitender Kapitellektüre nicht verhindern.
 
"Shakespeare-Neugierigen" wird das Buch wenig bringen, 
"Shakespeare-Kenner" werden kaum davon profitieren. Lesenswert ist das 
Konvolut unter Umständen wegen der Interpretation anderer literarischer 
Werke, das Kapitel über Joyces "Ulysses" habe ich durchaus interessant 
empfunden, was weniger an Girards nicht besonders fesselnder Theorie, 
als vielmehr an meinen, mich zeitweilig fesselnden, Schwierigkeiten mit 
"Ulysses" liegt. Mit jeder "Ulysses" betreffenden Krücke humpelt der 
"Ulysses" lesende Geist ein Stückchen weiter, um dann wieder fassungslos
 stehenzubleiben, und auf die nächste Krücke zu hoffen… Ebenso gilt: 
"Joyce-Kennern" wird vermutlich auch hier nur kalter Kaffee gewärmt.
 
Manchmal kam mir beim Lesen auch in den Sinn, ob Shakespeare, wenn 
er all das, was heutige Literaturwissenschaftler über seine Stücke 
wissen, auch gewußt hätte, seine Stücke nicht anders (oder überhaupt) 
geschrieben hätte: Girard erweckt den Eindruck, Shakespeares Intentionen
 besser zu kennen, als Shakespeare diese - seine - selbst gekannt hatte.
 Es fehlte im Grunde nicht viel, und Girard würde vielleicht auch noch 
Shakespeares Dramen "verbessern", um Shakespeares dramatischen und 
dramaturgischen Absichten eingehender gerecht zu werden, der Ansatz zu 
diesem Schritt ist in Girards Analysen jedenfalls vorhanden. Beim Lesen 
kommt auch in den Sinn, wieweit Shakespeare-Interpretationen nicht eher 
Shakespeare-Interpreten-Projektionen sind, Shakespeare als 
Psychoanalytiker, Beichtvater, Obsessionsziel, was auch immer, für 
Generationen von Werk-Deutern, Dramen-Haruspices, Corpus-Interpreten…
 
Fragwürdig die Methode das Konstrukt eines Stücks, angeführt zur 
Erläuterung der Theorie, durch die Konstruktion anderer Stücke desselben
 Autors zu untermauern, um die Theorie zu belegen. Das Verfahren 
evoziert den haut goût der "self-fulfilling prophecy". Man kann sich 
auch denken, daß Shakespeare, als Bühnenprofi, viel zu sehr Pragmatiker 
war, als daß er seine Stücke analytisch konstruiert hätte, um mit einem 
Maximum an sprachlichen und dramatischen Wendungen ein Optimum an 
Bühnen- und Publikumswirksamkeit zu erzeugen. Ich denke eher, daß aus 
einem Fundus von Handlungs- und Strukturgerüsten, welche tragödienseitig
 durch Sophokles, Aischylos und Euripides, komödienseitig von 
Aristophanes und Plautus historisch tradiert und durch die Renaissance- 
(der) Übersetzungen einerseits, durch den Buchdruck andererseits, den 
elisabethanischen Lesern aktuell zugänglich waren, diese, manchmal 
mittels nur minimaler origineller Eingriffe, inspiriert/"abgekupfert" 
von literarischen Konkurrenten (z. B. die "University Wits"), 
"aufgepeppt" wurden, um entsprechende Bühnen- und Publikumswirksamkeit 
zu erreichen. Mit "aufgepeppt" meine ich z.B. Anspielungen auf 
zeitgenössische politische oder gesellschaftliche Situationen. Die 
Theorie Girards macht mir Shakespeare zu steril, als ob er (resp. seine 
fakultativen Co-Autoren, die nicht auszuschließen sind, und die Girard 
bei "Coriolanus" einräumt) seine Stücke am Reißbrett erdacht hätte.
 
Da die Überlieferung der Shakespearschen Stücke in erster Linie 
durch vereinzelt stark differierende Texte in (bad, doubtful, good) 
Quartos, resp. durch die (vermutlich) zusammengeführten 
Schauspieler-"Rollen" in den Folios stattgefunden hat, frage ich mich, 
wo soll da die Rißzeichnung, der Urtext Shakespeares sein, an welchem 
seine konstruktive Intention, seine eigene dramaturgische Handschrift 
sozusagen, wirklich erkennbar wäre, welche die Theorie Girards 
unmittelbar bestätigte? Wie kann eine Texttheorie unmittelbar durch 
einen nur mittelbar überlieferten Text bestätigt werden? Die 
Unmittelbarkeit läßt jedoch Girards stark heraushängen, die Zitate 
erscheinen als in Fels gemeißelt, was bei Übersetzungen kein Wunder 
darstellt, da meistens eine (einzige) Referenzübersetzung für Belege 
herangezogen wird, und die liefert natürlich nur einen (einzigen) Text, 
ohne textkritische Varianten, ab, da eine Übersetzung keine 
philologische Textkritik ist. Aber auch Originalzitate brächten kaum 
eine Lösung: Historisch setzte sich im wesentlichen ein kanonisierter 
Text des Shakespeare-Corpus-Kanons durch, trotz verschiedener 
Textausgaben unterschiedlicher Textfassungen, - und selbst 
unterschiedlicher Dramenzusammenstellungen. 
 
Unterm Strich hätte das ganze Werk durchaus als Broschüre seine 
Information vermitteln können, den beinahe kompletten Shakespeare-Corpus
 (etwa ein Drittel der Dramen ausführlich, weitere, inklusive der 
Dichtungen, werden erwähnt) zur Illustration einer einzigen nebbichen 
Theorie heranzuziehen, betrachte ich als stark übertrieben, an einigen 
wenigen Shakespeare-Dramen demonstriert, würde der Leser Girards Theorie
 auch kapiert haben. 
 
Weder die finanzielle, noch die lesezeitliche Investition lohnen den
 Ertrag für literaturinteressierte Leser, schon gar nicht für 
"Shakespeare-Interessenten". Eventuell finden lediglich einige  
theorieinteressierte Leser von René Girard hierin eine willkommene 
Lektüre.